Dienstag, September 20, 2005

Karl's Kolumne - leichte Beute

[ Jeden Dienstag neu.]

Ausdauersport richtig verstanden ist etwas Wunderbares (Loriot)
Die Kolumne von Karl Ettinger


von links: Franzi, Werner, Karl
Leichte Beute

Lange Trainingspause über den Sommer.

Aber heute gehe ich wieder laufen.

Gaaanz langsam wieder aufbauen. Aller Anfang ist schwer. Karl, lass Dir Zeit, lauf aerob und schau, dass Du ohne Zerrung, Faserriss und Muselkater wieder heimkommst!

Also los, locker und entspannte Vierer-Schritt-Atmung. Meine Hausstrecke: Auf dem Donaudamm entlang zum Auwaldsee (1,5km), zweimal rum (je 2,7km) und auf dem Donaudamm wieder nach hause.

Genau hinter einem mopsigen Mitdreissiger treffe ich auf den Auwaldsee: Spannungslose Körperhaltung, lautes, tapsiges Aufsetzen des Fusses, starke Arm- und Oberkörperbewegung und etwa 8kg Übergewicht deuten auf eine leichte Beute im Auwaldsee-Überlebenslauf hin. Ich hefte mich an seine Fersen und weiss, dass er meine Schritte hört und meinen Atem in seinem Nacken spürt. Es wird mich wenig Mühe kosten, ihm meine sportliche Überlegenheit zu demonstrieren.

Der Sportskammerad läuft schneller, als ich dachte, unser Abstand wird größer.

"Das hält der nicht lange durch, nach einer halben Runde bricht er ein" sage ich zu mir. Soll ich jetzt wirklich wegen eines unbekannten übergewichtigen Mitdreissigers mein Trainingskonzept über den Haufen werfen? Der Abstand beträgt jetzt 5 Meter. Andererseits kann ich meinen aeroben Bereich durch Trainings im anaeroben Bereich doch auch vergrößern. Abstand jetzt 7 Meter. Eine halbe Runde verfolge ich inzwischen meine Beute. Wie lange kann er das Tempo noch halten?

Nach 3 gelaufenen Kilometern, fühe ich mich wohl, fühle die Kraft nur wenig hinter dem Zenit meiner Leistungfähigkeit. Kraft, die ich durch ein Leben voller Vitalität, Tüchtigkeit und Disziplin gepflegt und vermehrt habe. Und dieses schwitzende Beutetier fordert diese Kraft heraus und wagt es, den Abstand auf inzwischen 30 Meter zu vergrößern. Ich verschnellere meinen Schritt ein wenig.

Der Abstand bleibt jetzt konstant. Ich beschleunige erneut. Karl, genieße die Natur! Verneige Dein Haupt in Demut ob der Schöpfung Gottes! Ich beschleunige. Karl, sei nicht so verbissen, genieße den Augenblick! Der Abstand wird nur sehr langsam geringer. Meine Vierer-Schritt-Atmung reicht nicht mehr zur Versorgung aller Muskeln mit Sauerstoff aus, ich wechsle auf Dreier-Schritt-Atmung, quasi einen Gang runtergeschalten.

Seit eineinhalb Runden verfolge ich nun mein Opfer, dessen Haltung noch die gleiche Spannungslosigkeit und den gleichen Schlürfschritt aufweist. Aber der Abstand verringert sich jetzt deutlich. Ich habe den Wohlfühlbereich verlassen, schwitze und bereue die Biere und Zigarretten der letzten Woche. Per Aspera ad Astra (Durch Eiserne Disziplin und Härte zu Dir selbst erfährst Du den Weg zu den Sternen). Noch eine halbe Runde und ich habe ihn.

Jetzt kann er mich wieder hören. Ich kann seine Schweissspur riechen. Nur noch wenige Meter. Werde ich das Tempo halten können, wenn ich mich vor ihn gesetzt habe oder werde ich seinen Jagdtrieb und damit neue Energie freisetzen, wenn ich mich vor ihn setze? Ich könnte es nicht überleben, von dem übergewichtigen Spannungslosen überholt zu werden.

Ich atme tief, spanne meinen Körper und setze zum Überholen an. Wir sind jetzt auf einer Höhe. Ich schaue meinem Opfer ins Gesicht. Er sieht mich an, wir lächeln uns an und er biegt mit einem freundlichen "auf Wiedersehen" ab.

Ohne zu ahnen, in welcher Gefahr er sich befand. Ohne zu ahnen, dass er und ich in den letzten 20 Minuten die einzigen Lebewesen in meiner Welt waren.

(Ich reduzierte sofort die Geschwindigkeit, lief schön locker nach hause und hatte zweit Tage einen Muskelkater)